Heute ermöglicht uns die Altersvorsorge ein finanziell selbstbestimmtes Leben im Ruhestand. Aber wie ist dieses System der Altersversicherung eigentlich entstanden? Der Historiker Matthieu Leimgruber über die Geschichte der Rentensysteme und ihren wichtigen Beitrag an eine funktionierende Gesellschaft.

Die Idee der Pensionierung mit einer Altersrente ist überraschend jung, sie etablierte sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Wie haben die Menschen davor für ihr Alter vorgesorgt?
Gar nicht. Der Ruhestand als eine Lebensperiode existierte über Jahrtausende nicht. Man arbeitete, bis man starb, wobei die Lebenserwartung auch wesentlich tiefer war. Unterstützung erhielten die Alten durch den Familienverband oder notfalls durch Armenhäuser.

Wie kam es zum Umdenken?
Infolge der Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Gesellschaft. Die Menschen zogen in die Städte, sie arbeiteten in den Fabriken und die traditionellen Familienstrukturen verloren an Bindungskraft. Die Lebenserwartung stieg signifikant an und gleichzeitig erhöhte sich auch das Risiko für Altersarmut deutlich. So begann die Diskussion über die sogenannte «soziale Frage»; also über die Themen Arbeitsausfall durch Krankheit oder Invalidität, Arbeitslosigkeit und eben auch über die Herausforderung, älteren Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen, wenn sie nicht mehr erwerbstätig sein können.

Wann entstanden die ersten Rentenversicherungen?
Schon im 18. Jahrhundert wurden erste Pensionssysteme für gewisse Staatsangestellte und Militärangehörige eingeführt. Lebensversicherungen und betriebliche Altersvorsorgesysteme entwickelten sich verstärkt im Laufe des 19. Jahrhunderts. Allerdings profitierte davon nur eine sehr begrenzte Gruppe von Menschen.

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Die Altersvorsorge gehört zu den grossen Errungenschaften der Menschheit.

Und wer erfand die Altersvorsorge für alle?
Unter Reichskanzler Otto von Bismarck verabschiedete der deutsche Reichstag 1889 die erste gesetzliche Rentenversicherung. Ein historischer Akt, aber vor allem auch eine Beruhigungspille für die erstarkte Arbeiterschaft.

Inwiefern Beruhigungspille?
Von einer existenzsichernden Altersvorsorge konnte damals noch nicht die Rede sein. Die Renten waren nicht nur gering, sondern wurden anfangs auch erst nach Vollendung des 70. Lebensjahres ausbezahlt. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug jedoch lediglich 55 Jahre und war bei den einkommensschwächeren Arbeitern sogar eher noch niedriger. Nur die wenigsten kamen in den Genuss von Rentenzahlungen.

Ab wann existierte eine funktionierende Altersrente?
Während der Zwischenkriegszeit führten viele Industrieländer – wie etwa 1930 Frankreich oder 1935 die USA – Altersversicherungen ein. Aber diese wurden erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit wirklich auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet. Die Einführung der Alters- und Hinterlassenenvorsorge AHV in der Schweiz im Jahr 1948 ist ein Beispiel für diese Dynamik. Auf diese Einführungswelle folgten sofort hitzige Debatten über das Einkommen älterer Menschen.

Wodurch wurde diese Debatte ausgelöst?
Die Welt hatte sich diametral verändert. Auf Wirtschaftskrisen und zwei Weltkriege folgte ein anhaltender ökonomischer Aufschwung, was für die Altersvorsorge ganz neue Perspektiven eröffnete. Nun stellte sich die Frage, wie die bisherige, minimale Grundversicherung zu einem «Alterslohn» erweitert werden könnte, um Rentnerinnen und Rentnern ein Fortführen ihres früheren Lebensstandards zu ermöglichen. Dabei sollte nicht nur der Bruttobetrag der Renten erhöht, sondern auch eine regelmässige Indexierung eingeführt werden – ähnlich, wie es bereits seit 1957 in Deutschland praktiziert wurde –, um die Renten an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten anzupassen.

Swiss Life war die erste Gesellschaft in der Schweiz, die Rentenversicherungen anbot, und spielte bei der Entwicklung der Altersvorsorge eine zentrale Rolle.

Diese Erweiterung der Leistungen und die Implementierung der Systeme, wie wir sie heute kennen, erfolgte schliesslich in den 1960er und 1970er Jahren. Dabei wählten die Länder sehr unterschiedliche Lösungen. Was sind die Hauptunterschiede?
Neben einer staatlichen Grundversicherung existierten in vielen Ländern auch andere Formen der Altersvorsorge, wie zum Beispiel berufliche Pensionskassen. Unterschiedliche Finanzierungsmethoden und die Aufgabenteilung zwischen dem Staat und den Vorsorgeeinrichtungen haben zu grossen Unterschieden zwischen den Rentensystemen geführt. Ein Paradebeispiel dafür ist Frankreich, wo die «Sondersysteme» für Beamte und Angestellte des öffentlichen Sektors sowie die Rentenkassen für Führungskräfte und Angestellte des Privatsektors das Umlageverfahrenssystem der staatlichen Grundversicherung übernahmen. Dieser Ansatz ist typisch für Länder, in denen die Vorsorgeeinrichtungen der Arbeitgebenden historisch gesehen eine untergeordnete Rolle spielten oder durch Kriege und Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschwächt wurden.

Andere Länder verlassen sich mehr auf private Initiativen und individuelle Entscheidungen, darunter die angelsächsischen und skandinavischen Länder, aber auch die Schweiz.
Richtig. Hier gilt das Umlageverfahren nur für die staatliche Einheitsrente, in der Schweiz die «erste Säule» genannt. Daneben setzen diese Länder auf das Kapitaldeckungsverfahren und die Entwicklung der beruflichen Vorsorge sowie des individuellen Sparens. Die Besonderheit der Schweizer Lösung besteht darin, dass im Gegensatz zu etwa den USA oder Grossbritannien, wo die berufliche Vorsorge bis heute freiwillig bleibt, die berufliche Vorsorge seit 1982 obligatorisch ist. Das Herzstück dieser «zweiten Säule» sind Pensionskassen, die von öffentlichen und privaten Arbeitgebenden oder Lebensversicherungsgesellschaften geführt werden. Letztere haben die Altersvorsorge wesentlich mitgeprägt.

Welche Bedeutung hatte dabei die 1857 gegründete Schweizerische Rentenanstalt, seit 2002 als Swiss Life bekannt?
Sie spielte auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle. Swiss Life war die erste Gesellschaft in der Schweiz, die Rentenversicherungen anbot und so zur Etablierung von Lebens- und Rentenversicherungen als Mittel der finanziellen Absicherung beitrug. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sie auch die erste Lebensversicherung für die breite Bevölkerung, die sogenannte «Volksversicherung». Damit leistete sie einen Beitrag zur Bekämpfung der Altersarmut, wenn auch nur auf bescheidenem Niveau, da die Versicherungssummen zu dieser Zeit sehr niedrig waren.

Trotzdem war die Nachfrage enorm: Von den rund 800 000 Lebensversicherungspolicen, die 1925 in der Schweiz abgeschlossen wurden, entfiel knapp die Hälfte auf die Volksversicherung. Ebenfalls bemerkenswert: Nicht nur die Leitung dieser Abteilung wurde von der Prokuristin Mathilde Pfenninger übernommen, auch alle hundert Angestellten waren Frauen. Wie lässt sich das erklären?
Die Frauen waren schlichtweg näher an den Kunden und insbesondere an den Kundinnen. In den Arbeiterfamilien jener Zeit verwalteten in der Regel die Frauen das Geld und sie waren auch zu Hause, wenn die Versicherungsvertreterinnen an die Haustüre klopften, um Versicherungen zu verkaufen.

Weltweit kommen weniger als 20 Prozent der alten Menschen in den Genuss einer existenzsichernden Altersrente.

War die damalige Schweizerische Rentenanstalt auch in die Entwicklung der AHV involviert?
Ja. Da sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Markt für die Pensionskassen – also Gruppenlebensversicherungen für private Arbeitgeber – dominierte, spielte sie dabei eine tragende Rolle. Politisch stand sie der damaligen Staatspartei FDP sehr nahe und war, gemeinsam mit den anderen grossen Lebensversicherern, regelmässig bei den Debatten zur AHV dabei. Mit ihrem organisatorischen und versicherungsmathematischen Know-how hat sie die Idee der Dreiteilung des Rentensystems massgeblich mitgeprägt.

Hat sich die Idee der Altersvorsorge heute global durchgesetzt?
Nein. Sie bleibt eine grosse Herausforderung. Weltweit kommen weniger als 20 Prozent der älteren Menschen in den Genuss einer existenzsichernden Altersrente. Obwohl auch Länder wie China oder Indien heute ihre Altersvorsorgesysteme entwickeln, bleibt die Aussicht auf Renten in der Höhe von 60 bis 70 Prozent des letzten Lohns für die meisten älteren Menschen nach wie vor in weiter Ferne.

Die Altersvorsorge ist angesichts der steigenden Lebenserwartung und des gleichzeitigen Geburtenrückgangs zunehmend schwer zu finanzieren. Bereits heute sind rund 20 Prozent der Bevölkerung Europas über 65 Jahre alt – Tendenz steigend.
Tatsächlich befinden wir uns heute in der dritten Phase in der Geschichte der Altersvorsorge. Es werden heftige Reformdebatten geführt. Dabei geht es primär um den Erhalt und die Frage, wie viel künftig von der Allgemeinheit und wie viel individuell angespart werden soll.

Droht der Ruhestand mit einer existenzsichernden Altersvorsorge gar zu einer kurzen Episode in der Weltgeschichte zu werden?
Nein, das denke ich nicht. Die Altersvorsorge gehört zu den grossen Errungenschaften der Menschheit. Die Alternative wäre eine massive Altersarmut, wie die Geschichte zeigt. Länder, die versucht haben, die Altersvorsorge vollständig zu privatisieren – wie beispielsweise Chile unter Pinochet –, sind damit gescheitert. Die einzige Lösung besteht in der Vergesellschaftung des Altersrisikos.

© Portrait Photo: Virginie Otth

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Matthieu Leimgruber

Matthieu Leimgruber (51) ist Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Zürich. Er forscht zur Geschichte der sozialen Sicherheit und der Altersvorsorge und schrieb dazu das Standardwerk «Solidarity without the State?» (Cambridge University Press). Mehr Informationen: www.geschichtedersozialensicherheit.ch

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